Dorf und Stadt in einem Ort – Bemühungen eines Erzbischofs aus Magdeburg
Wusterwitz (früher Groß Wusterwitz) ist ein kleiner Ort am Rande des Havellandes zwischen Magdeburg und Berlin, der heute dem brandenburgischen Landkreis Potsdam-Mittelmark zugeordnet ist. Durch die geographische Nähe zu Magdeburg ist es nicht verwunderlich, dass auch dieser Ort mit dem Magdeburger Recht in Verbindung steht. Allerdings bringt die Geschichte des Magdeburger Rechts in Wusterwitz einige Besonderheiten mit sich. Sie zeugt von einem Versuch, aus Magdeburg heraus eine Stadt zu gründen.
Das 12. Jahrhundert war von Bemühungen zur Besiedlung und Christianisierung der slawischen Gebiete zwischen Elbe und Oder geprägt. Die Anlage städtischer Zentren sowie von Märkten sollten die Ansiedlung dabei vorantreiben. Sie dienten dazu, die Verwaltung des Gebietes zu ermöglichen, die Ressourcen vor Ort nutzen zu können und weitere Einnahmen durch Abgaben zu generieren.[1] So war auch das Erzbistum Magdeburg unter dem amtierenden Erzbischof Wichmann von Seeburg (amt. 1154–1192) daran interessiert, wenig belebte Flecken in der Umgebung zu besiedeln. In diesem Zuge stand neben anderen Ortschaften auch Wusterwitz in seinem Fokus.
Die Kopie einer Urkunde dokumentiert, dass Erzbischof Wichmann im Jahr 1159 das Dorf Wusterwitz an einen Lokator (Siedlungsunternehmer) namens Heinrich überwies, der anschließend mit seinem Gefolge von flämischen Kolonisten (aus den Niederlanden) den Ort besiedeln sollte. Heinrich fungierte in der Rolle des Lokators als Vermittler zwischen dem Erzbischof und den Siedlern.
Die Ansiedlung mit niederländischen Kolonisten war zu der Zeit keine Ausnahme. Der „Hohe Fläming“ beginnt nur wenige Kilometer südlich von Wusterwitz. Sein Name weist bis heute auf die hohe Zahl flämischer Einwanderer im hohen Mittelalter in dieser Region hin. Die Siedler gestalteten die heutige Kulturlandschaft im Osten des heutigen Sachsen-Anhalts und im Südwesten Brandenburgs mit, bis heute ist sie von flämischen Einflüssen geprägt. Eine Auffälligkeit ist, dass gewisse Ortsnamen im Fläming Ortsnamen in den Niederlanden und Belgien ähneln. So stammt etwa der Name des Ortes Niemegk im Südwesten Brandenburgs mit hoher Wahrscheinlichkeit von dem niederländischen Nijmegen ab oder Brück, nur wenige Kilometer nördlich von Niemegk, vom belgischen Brügge.[2]
Abb. 2: Die Feldsteinkirche in Wusterwitz
Bis zu dem Zeitpunkt der Ansiedlung war Wusterwitz vermutlich ein schwach besiedeltes altes Slawendorf. Den Kolonisten unter Heinrich wurden Bauernhöfe sowie Ackerland zugeteilt, welches als ihr eigenes angesehen wurde. Im Gegenzug mussten sie jährlich zwei Schilling und den vollen Ertragszehnten an den Landesherren Wichmann abgeben. Den Kolonisten, die als cultores agrorum (Ackerbauern) des Dorfes fungierten, wurde das sogenannte Schartauer Recht verliehen. Schartau ist heute ein Ortsteil der Stadt Burg bei Magdeburg. Es handelt sich hierbei um ein Landrecht, das schriftlich nicht festgehalten wurde und dessen Inhalt demzufolge unbekannt ist.[3]
Zeitgleich mit der Ansiedlung der flämischen Kolonisten legte Wichmann in Wusterwitz einen Handelsplatz an und setzte darauf, dass sich Kaufleute (mercatores) sowie Hauseigentümer (cives ac domestici)[4] ansiedeln würden. Diese sollten zum einen räumlich von den Ackerbauern durch ein forum getrennt werden, zum anderen sollte auch eine rechtliche Trennung zwischen den beiden Arten der Ansiedlung erfolgen. Den Marktleuten gewährte Wichmann Markprivilegien nach Magdeburger Recht. So verfügten die Kaufleute über die Freiheit, nach eigenem Willen zu kaufen und zu verkaufen. Den Bürgern teilte Wichmann Hausstellen zu, welche für die nächsten fünf Jahre abgabenfrei sein sollten. Neben diesen Privilegien gab es zudem Regelungen, die den Gästen von Wusterwitz eine Befreiung von Zoll- und Geleitsgebühren für fünf Jahre gewährten.[5]
Wusterwitz baute sich also auf zwei unterschiedlichen Rechtsgrundlagen auf: eine für die flämischen Ackerbauern (Schartauer Recht – Landrecht), die andere für die Kaufleute und Bürger (Magdeburger Recht – Stadtrecht). Diese beiden Rechtsgrundlagen verbanden sich dabei zu einer Rechtsgemeinde. Somit unterlagen alle Einwohner demselben Richter: dem bereits erwähnten Lokator Heinrich. Die Erträge aus den im Ort abgehaltenen Gerichtsprozessen gingen zu einem Drittel an Heinrich und zu zwei Dritteln an den Erzbischof in Magdeburg. Eine Besonderheit war, dass allein Heinrich die Gerichtsbarkeit über die Einwohner von Wusterwitz besaß, nicht etwa ein Graf oder ein Vogt. Demnach wurden die Einwohner durch Wichmann aus der Gerichtsverfassung des Landes herausgelöst.[6] Darüber hinaus gewährte Wichmann den Kolonisten die Befreiung vom Burgwerk.[7] Die Siedler waren somit nicht verpflichtet, sich beim Bau bzw. bei der Instandhaltung erzbischöflicher Burgen zu beteiligen. Im Falle eines Angriffs durch ‚Heiden‘ mussten sie jedoch für Wusterwitz einen Wall errichten. Die Verpflichtung zur Erbauung eines Walls weist darauf hin, dass die Neuansiedlung in den slawisch geprägten Gebieten keineswegs immer konfliktfrei von statten ging.[8]
Abb. 3: Gedenkstein zum 750-jährigen Bestehen von Wusterwitz (1909)
Im Zuge eines fortschreitenden Ausbaus der Siedlung ließ Wichmann etwa ab 1180 eine Kirche errichten. Für die Erbauung bestimmte er eine Hufe.[9] Die architektonische Form der Feldsteinkirche in Wusterwitz grenzt sich deutlich von der einer gewöhnlichen Dorfkirche ab. Vielmehr gleicht sie Kirchen in kleinen Städten wie Ziesar oder Bad Belzig.[10] Die Dimension der Kirche sowie die Gründung eines Marktes lassen darauf schließen, dass der Erzbischof beabsichtigte, aus Magdeburg heraus eine Stadt in Wusterwitz zu gründen.
Die Neuansiedlung von Wusterwitz war Teil einer territorialen Ausbreitung des Erzbistums Magdeburg unter Erzbischof Wichmann von Seeburg. Auch in anderen Ortschaften, wie etwa in Pechau (kleine Ortschaft östlich der Elbe, heute ein Stadtteil Magdeburgs), ging Wichmann ähnlich vor. Hier siedelte er ebenfalls flämische Bauern unter Leitung eines Lokators an und übertrug ihnen ein bestimmtes Recht. Der wesentliche Unterschied zu Pechau war, dass Wusterwitz neben der Ansiedlung flämischer Bauern ebenfalls mit einem Markt sowie mit dem Magdeburger Stadtrecht ausgestattet wurde. Der Plan Wichmanns war es nämlich, hier einen Jahrmarkt abhalten zu lassen, bei dem sich überregionale Händler einmal jährlich treffen konnten. Dieser sollte einen Impuls geben, um Wusterwitz zu einem bedeutenden Handelsstandort zu entwickeln. Um diesen Plan umzusetzen, brauchte es ansässige Kaufleute und Bürger, welche dann ein tägliches Marktgeschehen in Bewegung setzen würden. Der Transfer von Rechtstraditionen und damit einhergehenden Privilegien sollten dabei helfen, neue Leute für die Siedlung zu gewinnen.
Bis heute ist der Ort allerdings nicht über den Status eines Dorfes hinausgewachsen. Während bei der bäuerlichen Ansiedlung von einem Erfolg gesprochen werden kann, ist die städtische Entwicklung, trotz der von Wichmann für gut befundenen Lage, bis heute ausgeblieben. Auf die Frage, warum eine Stadtentwicklung in Wusterwitz letztendlich nicht erfolgte, gibt es keine endgültige Antwort. Denkbar ist, dass die Nähe von Wusterwitz zu Brandenburg an der Havel eine erfolgreiche Stadtgründung verhindert haben könnte. Brandenburg an der Havel liegt nur wenige Kilometer östlich von Wusterwitz. Die Stadt wurde bereits im 10. Jahrhundert Sitz eines Bistums und war dementsprechend von großer Bedeutung. Ebenfalls bedeutend waren die Handelsrouten zwischen dem Erzbistum Magdeburg und dem Bistum Brandenburg. Vermutlich versuchte Wichmann, Wusterwitz als lohnenswerten Handelsstandort auf der Route von Magdeburg über Ziesar und Plaue nach Brandenburg an der Havel zu etablieren. Im 12. und 13. Jahrhundert nahm jedoch auch die Stadtentwicklung Brandenburgs an der Havel Fahrt auf. Die Stadt breitete sich von der Dominsel immer weiter Richtung Westen aus. So entstand mitunter der heutige Stadtteil ‚Neustadt‘. Durch das Aufkommen neuer Stadtteile veränderten sich auch die Handelswege. Eine Möglichkeit ist demnach, dass Wusterwitz ab Mitte des 13. Jahrhunderts immer weiter ins Abseits der Haupthandelswege geriet, da neue Gebiete in Brandenburg an der Havel erschlossen wurden und demzufolge auch anderweitig erreicht werden konnten.[11]
Der Versuch einer Stadtgründung in Wusterwitz erfolgte vor allem aus wirtschaftlichem Interesse. Aus diesem Grund war der Erfolg insbesondere davon abhängig, dass die Haupthandelsroute durch den Ort führte. Infolge des Stadtausbaus in Brandenburg an der Havel verlor Wusterwitz zunehmend an Bedeutung, da sich die Handelsrouten veränderten und ein größeres Marktgeschehen dementsprechend ausblieb.
Durch die Übertragung des Magdeburger Rechts auf Wusterwitz trug der Ort dennoch zur Verbreitung des Rechts und somit zur kulturellen Verflechtung der Region bei. Darüber hinaus ist die Dorf- und Marktgründung ein Beispiel für den mittelalterlichen Landesausbau. Sie gibt einen Einblick in die damaligen Prozesse der Umgestaltung slawischer Gebiete.
Autorin: Julia Münker
Anmerkungen:
[1] Vgl. Bergstedt 2009–2010, S. 47f.
[2] Vgl. Berner 2019
[3] Vgl. Rietschel 1897, S. 122f.
[4] Übersetzung von Winfried Schich.
[5] Vgl. Schlesinger 1961, S. 278f.
[6] Vgl. Zimmer 2003, S. 31.
[7] Vgl. Bergstedt 2009–2010, S. 46.
[8] Vgl. Bergstedt 2009–2010, S. 49.
[9] Vgl. Schlenker 2009, S. 17–32.
[10] Vgl. Bergstedt 2009–2010, S. 48.
[11] Vgl. Bergstedt 2009–2010, S. 55f.
Literatur:
Clemens Bergstedt: Warum wurde Groß Wusterwitz keine Stadt?, in: Jahresbericht über den Historischen Verein zu Brandenburg 19 (2009–2010), S. 45–70.
Elisabeth Berner: Brandenburgische Sprachlandschaft, in: Historisches Lexikon Brandenburgs, publiziert am 05.04.2019, online: http://www.brandenburgikon.de (zuletzt aufgerufen am 25.04.2023).
Friedrich Ebel: Unseren fruntlichen Grus zuvor – Deutsches Recht des Mittelalters im mittel- und osteuropäischen Raum. Kleine Schriften, Köln 2004.
Otto v. Heinemann: Albrecht der Bär. Eine quellenmässige Darstellung seines Lebens. Darmstadt 1864.
Heiner Lück: Sächsisch-magdeburgisches Recht zwischen Elbe und Dnjepr. Rechtstransfer als verbindendes europäisches Kulturphänomen, in: Kulturelle Vernetzung in Europa. Das Magdeburger Recht und seine Städte, hg. v. Gabriele Köster u.a., Dresden 2018.
Siegfried Rietschel: Markt und Stadt in ihrem rechtlichen Verhältnis: Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Stadtverfassung, Berlin 1897.
Gerlinde Schlenker: Flamen – ihre Bedeutung für die Entwicklung Sachsen-Anhalts 1159 – die frühesten erhaltenen Urkunden des Erzbischofs Wichmann von Magdeburg für die Neusiedler in den slawischen Orten Pechau und Wusterwitz, in: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte 16 (2009), S. 17–32.
Walter Schlesinger: Mitteldeutsche Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters, Göttingen 1961.
Keno Zimmer: Das Burger Landrecht. Ein spätmittelalterliches Rechtsbuch aus dem Kernland des Sachsenspiegelrechts, Halle (Saale) 2003.
Zitation:
Julia Münker: Wusterwitz. Dorf und Stadt in einem Ort – Bemühungen eines Erzbischofs aus Magdeburg, in: Das Magdeburger Recht. Baustein des modernen Europa, 10.10.2023, https://magdeburg-law.com/de/magdeburger-recht/historische-staedte/wusterwitz/
Bildnachweis:
Abb. 1–3: Foto: Martina Böttcher, 2023