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Stendal: Eine mittelalterliche Stadtgemeinschaft Magdeburger Prägung zwischen Konsens und Konflikt

Innerhalb der landesgeschichtlichen Überlieferung beginnt die marktrechtliche Entwicklung Stendals mit einem um 1160 von Albrecht den Bären erteilten Privileg, dessen Überlieferungsdeutung von einer Fälschung bis hin zu einer durch zwei echte Ausfertigungen kompilierten Abschrift reicht.[1] Mit seiner Urkunde übertrug Albrecht den Stendaler Bürgern die zeitlich unbegrenzte Zollfreiheit in den ebenfalls ihm gehörenden bzw. von ihm beanspruchten Orten Brandenburg, Havelberg, Werben, Arneburg, Tangermünde, Osterburg, Salzwedel und allen damit verbundenen Örtlichkeiten. Den Stendaler Markt selbst befreite Albrecht für fünf Jahre von jeglichen an ihn fließenden Zollgeldern. Des Weiteren wurde Stendal gestattet, nach denselben Rechtsgewohnheiten zu leben, wie es die Bürger Magdeburgs taten. Im Zusammenhang damit sollten sich die Stendaler Bürger bei Uneinigkeit über Auslegungsfragen des aus Magdeburg übernommenen Rechts an die dortigen Schöffen wenden und diese um Urteile bitten. Hinsichtlich der Häuserstellen in Stendal ordnete Albrecht für deren Besitzer einen jährlichen Zins in Höhe von vier Pfennigen an. Im Gegenzug sollten ihnen diese Grundstücke frei und erblich überlassen sein. Auch die gerichtlichen Verhältnisse wurden in der genannten Urkunde geregelt. Als Richter in Stendal fungierte ein Lehnsmann Albrechts namens Otto, der ein Drittel aller Einnahmen des Gerichts erhielt. Die übrigen Zweidrittel gingen dem brandenburgischen Markgrafen selbst zu. Eine weitere Verfügung sah für die zahlreich nach Stendal kommenden Neusiedler eine gleichrangige Nutzung der kommunalen Besitzungen wie Gewässer, Weiden und Holzgebiete vor.

Abb. 1: Albrecht der Bär (1123–1170) mit Helm, Panzer, Schwert und Schild steht über einem Mauerkranz, zu seinen Seiten je ein Kuppelturm. Die Umschrift +BRANDEBURG verweist auf den Prägeort. Es gibt auch Vermutungen, dass der Brakteat 1150 von Pribislav-Heinrich oder Jacza von Köpenick geprägt worden sein könnte. (Kulturhistorisches Museum Magdeburg, Münzkabinett, Inv.-Nr. 162/1962, Foto Charlen Christoph).

Auf Basis dieser Rechte etablierte sich in der Folgezeit in Stendal eine nach Magdeburger Recht verfasste Stadtgemeinde mit einer 1215 dokumentierten Ratsverfassung, deren Nachweis damit früher als in Magdeburg selbst erfolgte.[2] Vor diesem Hintergrund entwickelten sich verschiedene städtische Institutionen, die sich in einer Urkunde des Jahres 1280 in typischer Weise aneinanderreihen: landesherrlicher Vogt, Schöffen, Rat und Bürgerschaft.[3] Wie in anderen Städten ging auch in Stendal die Bedeutung  des Vogtes in der Folgezeit allmählich verloren, während die des Rates stetig wuchs. Allerdings hatte dieses aus den Vertretern der vornehmsten Gewerke zusammengesetzte Gremium die Interessen der Bürgerschaft zu berücksichtigen, die genau wie in Magdeburg regelmäßig im s.g. Burding – einer Bürgerversammlung – zusammenkam und dort um Mitbestimmung in kommunalen Anliegen rang. Die Bedeutung des Burdings schlug sich vor allem darin nieder, dass ihn der Stendaler Rat vor der Setzung neuer Rechtsregelungen anhören musste, wie eine entsprechende Übereinkunft von 1297 besagt.[4]

Auch die Schöffen erlangten eine wichtige Stellung, indem sie als Auskunftsinstanz für zahlreiche Städte dienten, die über Stendal das Magdeburger Recht übernommen hatten. Das so genannte Stendaler Recht gelangte nachweislich nach Wusterhausen a. d. Dosse (1233), Prenzlau (1234/35), Kyritz (1237), Osterburg (1238), Stargard/Szczecinski (1243), Friedland (1244), Wittstock a. d. Dosse (1248) und Neuruppin (1256). Auch Gardelegen und seit dem Spätmittelalter ebenso Salzwedel rezipierten Stendaler Rechtsgewohnheiten, die über Wittstock 1471 außerdem an den Ort Wilsnack übertragen worden sind.[5]

Abb.2: Rolandstatur in Stendal vor dem Rathaus mit der charakteristischen Gerichtslaube. Die heutige 1974 geschaffene Figur ist eine originalgetreue Kopie des Rolands von 1525. Er ist ein Symbol der städtischen Freiheiten und Rechte der Stendaler Bürgerschaft (Foto Zentrum für Mittelalterausstellungen).

Eine Besonderheit des Stendaler Rechts gegenüber dem Magdeburger Vorbild war eine Änderung im Erbrecht.[6] So sollte in Stendal das Erbe je zur Hälfte an die Witwe des Erblassers und an die gemeinsamen Kinder fallen. Die im Magdeburger Recht wichtigen Vermögenswerte „Gerade“ und „Heergewäte“ wurden zuvor aus dem Erbe herausgelöst und den damit auszustattenden weiblichen und männlichen Erbnehmer überlassen. Im Unterschied zu Magdeburg kam in Stendal damit ein von flämischen Siedlern eingebrachtes Halbteilungsrecht zur Geltung, das ebenso an die anderen oben bereits genannten Kommunen weitergegeben worden ist und darüber hinaus für die Städte in der gesamten Mark Brandenburg charakteristisch war.[7]

Im Zusammenhang mit der Übernahme des Magdeburger Rechts orientierte sich der Stendaler Rat auch im Hinblick auf die Gewerke am Vorbild der Elbestadt. Demnach hatten die beiden brandenburgischen Markgrafen Johann und Otto 1231 verfügt, dass sich die Gewandschneider nach denselben rechtlichen Gewohnheiten richten sollten, wie sie die Gewandschneider in Magdeburg besaßen. Von Stendal sind diese Regeln 1245 in wortgenauer Weise in das Statut der Gewandschneidergilde der Stadt Kyritz eingeflossen. Diese Gruppe bildete ebenso wie in Stendal das vornehmste Gewerk der Stadt und entsandte über Jahrhunderte immer wieder ihre Vertreter in den Rat. Hier hineingewählt verfolgten sie vor allem eine auf Fernhandel konzentrierte Politik.[8] Neben dem eigentlichen Transfer des Stadtrechts zeigt sich damit eine weitere Komponente des Beziehungsgeflechts der Städte des Magdeburger Rechts in Bezug auf die wirtschaftliche Ausrichtung der Bürgerschaften. Denn es waren insbesondere die Gewandschneider, die durch den Verkauf ihrer Waren in außerbrandenburgischen Gebieten hohe Gewinne erzielten. Innerstädtisch waren die Gewandschneider daher bestrebt, die Verkaufsrechte der Tuchmacher stark einzuschränken. Über Generationen hinweg schottete sich der Stendaler Rat mit seinem Bedürfnis, die städtische Politik zu gestalten und die eigene Stellung zu wahren, zunehmend gegenüber anderen sozialen Gruppen innerhalb der Bürgerschaft ab.

Diese machtpolitische Einstellung führte auf längere Sicht zu inneren Konflikten, indem die sich vernachlässigt fühlenden, vor allem ärmeren Bürger gegen den Rat aufbegehrten. In die grundsätzliche Auseinandersetzung zwischen Arm und Reich mischten sich politisch-herrschaftliche Parteiungen im Rahmen des Konflikts um die Altmark, den Markgraf Ludwig von Brandenburg und Herzog Otto von Braunschweig kriegerisch austrugen. Die Aufständischen hatten es sogar geschafft, Vertreter beutender Stendaler Familien, die wie die von Jerichow, Schadewachten, Buch oder Bismarck die Partei des Markgrafen bezogen, aus der Stadt zu vertreiben.[9] Zu einem Kompromiss der Konfliktparteien kam es 1345 unter Beteiligung des Markgrafen Ludwig von Brandenburg. Die ratsherrliche Verfassung wurde dabei so verändert, dass fortan Vertreter aus allen wichtigen Gewerken nach einem festen Verteilungsschlüssel in eines der zwölf im Stendaler Rat zur Verfügung stehenden Ämter einziehen sollten. Ferner musste sich der Rat, bevor er neue Gebote und Rechtsetzungen für die Bürger erließ, mit den Gildemeistern der Stadt darüber beraten. Letztere sollten sich ihrerseits erst mit ihren Kumpanen beratschlagen. War schließlich Einmütigkeit hergestellt, sollten verabschiedete Gebote und Regelungen auf Bürgerversammlungen und in Kirchen kundgetan werden, damit sie allen Einwohnern bekannt würden. [10]

Abb. 3: Sühnebild im mittleren Strebepfeiler der Apsis der Stendaler Marienkirche. Die Sandsteinskulptur, die als „Kleine Kreuzigung“ bezeichnet wird, geht auf vier Söhne aus vier angesehen Kaufmannsfamilien zurück. Sie hatten 1428 Albert Querstedt im Streit erschlagen und wurden neben einer erheblichen Geldzahlung zur Sühneleistung verpflichtet. Sie wurden im Anschluss aus Stendal verbannt. Damit ist das Sühnebild ein bedeutsames rechtsgeschichtliches Denkmal (wikimedia commons, Foto Schiwago).

Markgraf Ludwig setzte sich für seine aus der Stadt vertriebenen Parteigänger ein und bestätigte ihnen ihre Rechte, wobei dies explizit für ihren Besitz in der Stadt Stendal Geltung haben sollte. Als besondere Instanz der Rechtsprechung wurde für die Vertriebenen das Gericht des markgräflichen Vogtes in Tangermünde festgesetzt, wo es im Falle von Anfechtungen hinsichtlich ihres Besitzes zu Verhandlungen kommen sollte.[11] Stendal ist damit ein prägnantes Beispiel für einen so genannten Bürgerkampf im Mittelalter, dessen Charakteristik aus einem Konflikt zwischen Arm und Reich gepaart mit Auseinandersetzungen um das Stadtrecht bestand.[12] Eine stadtinterne Lösung ließ sich im Rahmen des herrschaftlichen Konfliktes zwischen Wittelsbacher und Welfen nicht finden, so dass erst durch Vermittlung des brandenburgischen Markgrafen ein Umbau der ratsherrlichen Verfassung erfolgte, die größere Teile der Bürgerschaft integrieren und hart geführte innere Konflikte für die Zukunft verhindern sollte.

Autor: Sascha Bütow

Anmerkungen:

[1] Der Text der Urkunde sowie eine Übersetzung davon sind abgedruckt bei Partenheimer, Lutz: Die Entstehung der Mark Brandenburg. Mit einem lateinischen-deutschen Quellenanhang, Köln/Wien 2007. Den umfänglichen Stand der Forschung beschreibt Partenheimer, Lutz: Albrecht der Bär, die Altmark und die erste Erwähnung Stendals, in: 850 Jahre Hansestadt Stendal – das Stendaler Markt- und Stadtgründungsprivileg, hg. v. d. Hansestadt Stendal u. d. Altmärkischen Museum, Oschersleben 2015, S. 7–64.

[2] Schich, Winfried: Die slawische Burgstadt und die frühe Ausbreitung des Magdeburger Rechts ostwärts der Elbe, in: Wirtschaft und Kulturlandschaft. Gesammelte Beiträge 1977 bis 1999 zur Geschichte der Zisterzienser und der “Germania Slavica” (= Bibliothek der brandenburgischen und preußischen Geschichte 12), hg. v. Winfried Schich, Ralf Gebuhr u. Peter Neumeister, Berlin 2007, S. 223–261, hier S. 258.

[3] Riedel, Adolph Friedrich (Hg.): Codex Diplomaticus Brandenburgensis (im Folgenden CDB), Reihe A, Bd. 15, Berlin 1858, Nr. 35, S. 24f.

[4] Ebd., Nr. 58, S. 45f.

[5] Ebd., Bd. 2, Berlin 1842, Nr. 25, S. 163f.

[6] Enders, Lieselott: Die Altmark. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft in der Frühneuzeit (Ende des 15. bis Anfang des 19. Jahrhunderts). Berlin 22016, S. 799.

[7] Ebel, Friedrich: Brandenburg und das Magdeburger Recht, in: Unseren fruntlichen grus zuvor. Deutsches Recht des Mittelalters im mittel- und osteuropäischen Raum. Kleine Schriten, hg. v. Friedrich Ebel u.a., Köln/Wien 2004, S. 237–252, hier S. 249.

[8] Schulze, Hans K.: Kaufmannsgilden und Stadtentstehung im mitteldeutschen Raum. Stendal, Halberstadt, Magdeburg, in: Hans Kurt Schulze: Siedlung, Wirtschaft und Verfassung im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands (= Quellen und Forschungen zur Geschichte Sachsen-Anhalts 5), Köln/Wien 2006, S. 133–176.

[9] Ausführlich dazu Götze, Ludwig: Urkundliche Geschichte der Stadt Stendal, Stendal 1873, S. 137–142.

[10] CDB, Reihe A, Bd. 14, Nr. 168, S.  124–126.

[11] CDB, Reihe A, Bd. 15, Nr. 175, S. 132f.

[12] Isenmann, Eberhard: Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Köln/Wien 2012, S. 256.

Zitation:

Sascha Bütow: Stendal. Eine mittelalterliche Stadtgemeinschaft Magdeburger Prägung zwischen Konsens und Konflikt, in: Das Magdeburger Recht. Baustein des modernen Europa, 30.06.2021, https://magdeburg-law.com/de/magdeburger-recht/historische-staedte/stendal/