Planstadt der Schlesischen Herzöge:
Die schlesische Hauptstadt Breslau/Wrocław liegt an der Oder, was großen Einfluss auf die Strukturen der mittelalterlichen Besiedlung hatte. Das natürliche, besonders reich entwickelte Gewässernetz bildete sich aus mehreren Flussarmen der Oder in ihrem breiten Tal und drei in sie mündenden Flüssen sowie den zahlreichen Altarmen. Die Gewässer änderten auf natürliche Weise ihren Lauf, sodass mehrere einzelne Flussinseln entstanden. Die größte Bedeutung für die frühe Siedlungsentwicklung der Stadt Breslau besaßen sowohl die Dom- und Sandinsel als auch die Areale im Uferbereich auf beiden Seiten des Oderstroms.
Die Umwandlung Breslaus vom frühen, polyzentrischen Siedlungskomplex in eine Rechtsstadt des 13. Jahrhunderts geschah im Rahmen der allgemeinen Entwicklungen in Mittel- und Westeuropa. Die florierende wirtschaftliche Entwicklung des Westens intensivierte den Fernhandel und den Informationsaustausch. Eine erhebliche Bevölkerungszunahme führte zu einer Auswanderungswelle und infolgedessen zu Bevölkerungswachstum im Osten. In Schlesien verlief dieser Transformationsprozess im Gegensatz zu anderen Gebieten in Europa friedlich. Die Neusiedler aus dem Westen waren im Handel, Handwerk und in der Landwirtschaft erfahren, weswegen sie den Grundherren sehr willkommen waren. Durch diesen Siedlungsprozess wurden neue Städte und Dörfer gegründet, welche die Grundherren als ihre eigenen Investitionen zur Förderung der Entwicklung ihres Herrschaftsbereichs (melioratio terrae nostrae) betrachteten. In Breslau waren solche Investoren und Förderer die örtlichen Fürsten der Dynastie der schlesischen Piasten.
Der Zustrom von Kaufleuten und Handwerkern aus dem Westen in manche ostmitteleuropäische Stadt hatte noch vor der Bildung der Stadtgemeinden im rechtlichen Sinn stattgefunden. Einige Quellen deuten darauf hin, dass dies auch in Breslau der Fall war. Bis zur Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert diente den Einwohnern der Handwerker- und Marktsiedlung auf dem linken Oderufer die St.-Adalbert-Kirche als Zentrum. Der Bau der Kirche St. Maria Magdalena im neu besiedelten Stadtteil scheint die Entstehung der neuen Gemeinde in Breslau Anfang des 13. Jahrhunderts widerzuspiegeln. Hierbei kann ebenso die Behauptung gewagt werden, dass sich dort die ersten deutschsprachigen Ansiedler in Breslau niederließen. Einzelne Schriftquellen aus dieser Zeit erwähnen Bewohner mit deutsch klingenden Namen wie zum Beispiel Gerung(us). Im Jahr 1214 wurde schließlich der rechtliche Vertreter der neuen Stadtbewohner, der Schultheiß Godinus (scultetus Godinus) bestätigt.
Am westlichen Rand der Stadt siedelten sich jüdische Kaufleute an und im Osten wallonische Weber. Die Anwesenheit ethnisch fremder Ansiedler in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts bedeutete aber keine wesentlichen Änderungen der Raum- und Siedlungsstruktur. Dazu kam es erst in den 1330/40er Jahren, als in einem bislang unbewohnten Gebiet der Stadt – westlich von den älteren polyzentrischen Handwerker- und Marktsiedlungen – ein neuer, anders organisierter Siedlungsbereich angelegt wurde.
Das Zentrum des neuen Stadtteils bildete ein viereckiger Marktplatz, etwa 180 mal 200 Meter groß, der in Breslau bis heute als »Der Ring« (Rynek) bezeichnet wird. Um ihn herum wurden in regelmäßigen Abständen die Straßen und Grundstücke für die bürgerlichen Häuser abgesteckt. Ob der gleichmäßig angeordnete Stadtplan direkt mit einem Gründungsakt in Verbindung stand, ist bisher unsicher. Mehrere Rechtsverleihungen für Breslau sind überliefert. Im Jahr 1261 erfolgte der letzte derartige Rechtsakt, bei dem Herzog Heinrich III. von Schlesien (reg. 1248–1266) und sein Bruder Wladislaw, später Bischof von Salzburg (amt. 1265–1270), Breslau mit Magdeburger Recht bewidmeten. Die Blockrandbebauung um den Markt wurde in 60 Fuß breite und 120 Fuß lange Grundstücke aufgeteilt. Die Bürgerhäuser im nördlichen Teil der Stadt hatten eine Breite von 40 Fuß. In einigen Fällen wurde die ursprüngliche Parzellengröße aufgrund der im 13. Jahrhundert errichteten Backsteinhäuser angepasst, die meisten Parzellen wurden jedoch anlässlich von Erbschaftsteilungen oder Verkäufen schnell verändert. In der Mitte des Platzes wurden im Laufe der Jahrzehnte das Rathaus, die Tuchhalle und gemauerte Verkaufsstände aus Backstein errichtet.
Die erste Breslauer Stadtmauer umfasste eine Fläche von etwa 40 Hektar. Innerhalb der Mauern lag das ursprünglich der Bürgergemeinde zugeteilte Gelände sowie das Kernstück der alten Handwerker- und Kaufleutesiedlung um die Kirche St. Adalbert, in der noch das fürstliche Landrecht galt. Außerhalb der Stadtmauern blieb ein Teil des schon vor der Stadtgründung besiedelten Gebiets, für das somit das Stadtrecht nicht galt. Die alte Siedlung ad sanctum Adalbertum wurde nach 1261 aufgelöst. An ihrer Stelle wurde das gleichmäßig geplante novum forum, der Neumarkt, errichtet. Zu dieser Zeit kam es auch zu Erweiterungen der Stadt, die zu deren Ausbreitung nach Süden und Westen führten. In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts wurde schließlich ein zweiter Gürtel zur Befestigung von ganz Breslau erbaut.
Innerhalb der geometrisch strukturierten Stadt befanden sich drei rechteckige Marktplätze: der zentral gelegene Ring, der von Südwesten an den Ring grenzende Salzmarkt und der jüngere Neumarkt. Archäologische Untersuchungen des Straßennetzes bestätigen deren Kontinuität vom Spätmittelalter bis heute. Die Straßen wurden zunächst mit einer festen Holzoberfläche befestigt und zur Stabilisierung schrittweise mit einem Steinpflaster versehen. Zur Erweiterung Breslaus wurde 1263 östlich der Altstadt die Neustadt ebenfalls in einer gleichmäßigen Struktur angelegt. Sie verfügte jedoch nicht über eigene Befestigungsanlagen. Das gesamte von den Breslauer Bürgern bewohnte Gebiet erreichte damals eine Fläche von etwa 140 Hektar. Außerhalb der bewohnten Stadt befanden sich die Fürstenburg an der Oder und die kirchlichen Enklaven: die Dominsel, die Sandinsel mit Augustinerabtei und nördlich davon Elbing/Ołbin mit der Prämonstratenserabtei.
In der frühen Bürgerstadt existierten zwei Pfarrkirchen: St. Maria Magdalena östlich des Marktplatzes und St. Elisabeth an dessen nordwestlicher Ecke. Einzigartig war die Situation der Bettelorden in Breslau. Ähnlich wie in Prag/Praha und Krakau/Kraków kamen sie noch vor der Lokation oder während der Neuanlage in die Stadt. Die Dominikaner hatten im Jahr 1226 die schon existierende St.-Adalbert-Kirche übernommen. Die Franziskaner erhielten für ihren Klosterbau ein Gelände bei der Sandbrücke, das wahrscheinlich am Markt der älteren Siedlung gelegen war.
Der Zustrom neuer Einwohner aus West- und Mitteleuropa und die daraus resultierende Neustrukturierung und Neuorganisation der Stadtgemeinde verursachten einen allgemeinen Wandel der Wirtschaftsorganisation, des bürgerlichen Bauwesens, der Sachkultur und des Lebensstils. Die Transformation der Stadt und der städtischen Lebensweise erfolgten über mehrere Jahrzehnte, wovon insbesondere archäologische Quellen zeugen. Die traditionellen Baukonstruktionen – Blockbau und Flechtwerk – wurden von Anfang des 13. bis Mitte des 14. Jahrhunderts durch die westliche Bauweise ersetzt, unter anderem durch die als Ständerbau bezeichnete Konstruktion, die sich später als schlesische Variante des Fachwerks weiterentwickelte. Erste bürgerliche Häuser aus Ziegelsteinen sind für die Mitte des 13. Jahrhunderts belegt. Etwa 100 Jahre später sind sie bereits zur dominierenden Bauweise geworden. Auch die Wohnbedingungen hatten sich geändert: Durch die Einführung von Kachelöfen am Ende des 13. Jahrhunderts hatte sich die Heizsituation verbessert. Später hielt durch die Nutzung von Kerzenständern und Öllämpchen künstliche Beleuchtung Einzug in die Häuser.
Die Wasserversorgung der Stadt erfolgte zunächst über Brunnen, die auf einzelnen bürgerlichen Grundstücken lagen. Bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts wurde mit dem Bau von Wasserwerken begonnen. Bis zum 16. Jahrhundert entstanden drei „Wasserkünste“, die Wasser aus den Flüssen Oder und Ohlau pumpten. Sie waren mit Rohrsystemen aus Holz oder Keramik verbunden, sodass das Wasser durch die Straßen zu öffentlichen und privaten Brunnen gelangte. Die Abwasserentsorgung und ein ordnungsgemäßer sanitärer Zustand der Stadt wurden durch private Kloaken auf den einzelnen Grundstücken und durch öffentliche Gossen (Abwasserrinnen) in den Straßen gesichert.
Das Erscheinungsbild der Stadt Breslau, ihre gut entwickelte bürgerliche Kultur und der relativ hohe Lebensstandard ihrer Einwohner waren das Ergebnis des Gründungsprozesses nach Magdeburger Recht. Noch heute ist das im 13. Jahrhundert entstandene Stadtbild gut erkennbar. Die Form des damaligen Marktplatzes blieb unverändert, obwohl sich die darum befindlichen Gebäude veränderten. Das Rathaus steht noch am ursprünglichen Ort, wurde im Spätmittelalter aber mehrmals im spätgotischen Stil umgebaut. Heute ist dort der Sitz des Historischen Museums der Stadt Breslau. Daneben stehen die Tuchhallen und Kramläden aus Backstein in ihrer ursprünglichen Gestalt; sie sind nach wie vor durch drei Gässchen geteilt. Der Markt erfüllt immer noch die wichtigsten seiner früheren Funktionen. Dort befindet sich der Sitz des Stadtpräsidenten und des Stadtrats. Der Platz sowie zahlreiche Cafés und Restaurants sind ein beliebter Treffpunkt für Einwohner und Touristen in Breslau. Der schachbrettartige Plan der Straßen der Altstadt blieb unverändert, ebenso wie die dazwischenliegenden Häuserblocks. In vielen ehemaligen Bürgerhäusern, vor allem in Kellern und im Erdgeschoss, blieben Ziegelmauern aus dem 13. und 14. Jahrhundert erhalten und dienen als Innendekoration von Restaurants und Geschäften. Die Breslauer Universität liegt heute an der Stelle der ehemaligen Burg am nördlichen Ende der Altstadt.
Autor: Jerzy Piekalski
Weiterführende Literatur:
Atlas historyczny miast polskich. The Historical Atlas of Polish Towns, Mappe 4, Śląsk [Schlesien], H. 13, Wrocław, Red. Rafał Eysymontt und Mateusz Goliński, Wrocław 2017.
Paweł Konczewski u. Jerzy Piekalski: The Streets of Medieval Wrocław – Methods of Construction and Functions, in: Ulica, plac i cmentarz w publicznej przestrzeni średniowiecznego i nowożytnego miasta Europy Środkowej [Straße, Platz und Friedhof in dem öffentlichen Raum der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt Mitteleuropas] (Wratislavia Antiqua 13), hg. v. Stefan Krabath, Jerzy Piekalski u. Krzysztof Wachowski, Wrocław 2011, S. 155–162.
Marta Młynarska-Kaletynowa: Wrocław w XII–XIII wieku. Przemiany społeczne i osadnicze [Breslau im 12. und 13. Jahrhundert. Siedlungs- und Sozialwandel], Wrocław u. a. 1986.
Eduard Mühle: Breslau. Geschichte einer europäischen Metropole, Köln/Weimar/Wien 2015.
Jerzy Piekalski: Die Lokation Breslaus als archäologisches Forschungsproblem, in: Mühle 2015, S. 139–155.
Zitation:
Jerzy Piekalski: Wrocław / Breslau. Planstadt der Schlesischen Herzöge, in: Das Magdeburger Recht. Baustein des modernen Europa, 09.06.2020, https://magdeburg-law.com/de/magdeburger-recht/historische-staedte/wroclaw-breslau/
Der Beitrag ist bereits in ähnlicher Form erschienen in: Gabriele Köster und Christina Link (Hg.): Faszination Stadt. Die Urbanisierung Europas im Mittelalter und das Magdeburger Recht (Katalog zur gleichnamigen Sonderausstellung vom 1.September 2019 – 2.Februar 2020), Dresden 2019, S. 213–216.