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Verleihung des deutschen Stadtrechts an die Ortschaft:

Nach Meinung einiger Historiker wird der Ort Radun’/Rodūnia erstmals 1217 in schriftlichen Quellen (Chroniken, Annalen usw.) genannt, als einer der sich zu dieser Zeit häufig ereignenden Kämpfe zwischen den Rittern des Deutschen Ordens und dem „weißrussisch“-litauischen Heer stattfand, bei dem letzteres siegte. Da es keinen genauen Beweis dafür gibt, dass sich diese Schlacht tatsächlich in der Nähe von Radun’ ereignete, ist es sicherer, dessen erste Erwähnung in das Jahr 1387 zu datieren, als der Ort Radun’ als Eigentum des Fürsten Skirgajlo Olgerdowic galt. Skirgajlo Olgerdowic war Fürst von Polozk/Polazk (1377–1381, 1387–1397), Traken/Trakai (1382–1392), Regent von Litauen (1386–1392), Fürst von Minsk (1387–1397), Swislotsch/Swislatsch (1387–1397) und Kiew/Kyjiv (1393–1397).

Umstritten ist auch, wann Radun’ das Magdeburger Stadtrecht erhalten hat. Einige Wissenschaftler datieren die Verleihung auf 1641, andere auf 1649. Alle sind sich aber einig, dass zur Zeit des polnischen Königs und Großfürsten von Litauen Johann III. (Jan III.) Sobieski (reg. 1674–1696) eines der Attribute des Magdeburger Stadtrechts als visuelle Bestätigung dieser Verleihung schon existierte: Dies spiegelt sich im Wappen von Radun’ wider, auf dem ein roter Krebs auf silbernem Grund dargestellt ist.

Radun’ war nachweislich 1766 im Besitz des Mszislauer Kastellans Yusef Tyschkewic, ab 1832 wurde die Ortschaft für zwölf Jahre an den Gutsbesitzer Julian Haiewinskij verpachtet. Laut erster überlieferter Volkszählung lebten im 16. Jahrhundert in Radun’ etwa 2.000 Einwohner in insgesamt 210 Häusern. Neben einem großen Markt befanden sich in diesem Städtchen im Jahr 1538 sieben Straßen. Eine mehrbändige polnische Enzyklopädie beschreibt Radun’ in dieser Zeit als einen sehr wichtigen Ort. 1866 wurden in Radun’ allerdings nur noch 91 Häuser erwähnt, in denen 869 Menschen lebten. Laut statistischen Angaben von 1897 stieg die Zahl der Einwohner wieder auf 1.621, auf 313 Häuser verteilt. Laut aktuellen Angaben leben heute 2.229 Menschen in Radun’.

Wie viele weißrussische Städte und Ortschaften des Großfürstentums Litauen und Königreichs Polen ging auch Radun’ seinen eigenen Weg zur Selbstverwaltung. Die meisten Informationen darüber beziehen sich auf das 18. Jahrhundert, nämlich auf die Regierungszeit des Königs von Polen und Großfürsten von Litauen, Stanisław II. August Poniatowski (reg. 1764–1795). Zu dieser Zeit befand sich Radun’ im Staatsbesitz und war Teil des Lidsker Kreises der Wilnaer Woiwodschaft. Stanisław August Poniatowski wurde 1764 zum Monarchen der Adelsrepublik „Rzeczpospolita“ gewählt. Seine Regierungszeit ist durch zahlreiche Reformen, welche auf die Verbesserung der Verwaltungsführung und Ordnung sowie auf die Erfüllung der Voraussetzungen für eine stabile Entwicklung im Land abzielten, gekennzeichnet.

Eine der Richtlinien war die Reform der Stadtregierung, die sich ursprünglich auf den Finanzbereich bezog. Weitere wichtige Reformen von Stanisław August Poniatowski waren:

1) Zunächst ist die Verfassung „Die Bedingungen unserer königlichen Städte und Ortschaften in der Polnischen Krone und im Großfürstentum Litauen“ von 1768 zu erwähnen. Sie betraf hauptsächlich Städte mit dem Magdeburger Stadtrecht. Der Sejm bestätigte die früheren Rechte der Städte und Ortschaften, jedoch wurden gerichtliche Angelegenheiten in Zivilsachen des Magistrats und Berufungen der Bürger, die zuvor vom Magistrat entschieden wurden, in die Zuständigkeit des Ältestengerichts übergeben; für Strafsachen war das Hof- und Assessorgericht zuständig.

2) Der Warschauer Außerordentliche Sejm verabschiedete 1775 die Verfassung „Wiederholt über Städte und Ortschaften“, welche Städte und Ortschaften des Großfürstentums Litauen nach ihrem wirtschaftlichen Potenzial und ihrer Bedeutung in drei Ebenen, sogenannte Klassen, unterteilte. Radun’ wurde der dritten Ebene, den „Ortschaften“ zugeordnet.

3) Auf der Suche nach den günstigsten Wegen für die Entwicklung der Städte ihres Landes verabschiedeten die Abgeordneten des vierjährigen Sejms der polnisch-litauischen Adelsrepublik Rzeczpospolita am 18. April 1791 das Gesetz „Unsere freien königlichen Städte in den Staaten von Rzeczpospolita“, wonach alle Einwohner staatlicher städtischer Siedlungen, welche eine liegende Habe aufgrund Privateigentums besaßen, persönlich für frei erklärt wurden. Alle Bürger, die im Handel tätig waren, fielen von nun an unter das Stadtrecht und wurden in die Stadtbücher eingetragen. Das Gesetz setzte die Appellationsgerichte der Stadt fest.

Darüber hinaus wurde 1791 eine Reihe von Gesetzen und Gesetzgebungsakten zur Stadtreform verabschiedet, nämlich: a) „Die interne Anordnung der freien Städte von Rzeczpospolita in der Polnischen Krone und im Großfürstentum Litauen“; b) „Eine Warnung vor der Einführung des Rechts in unseren Städten, die davor königlich waren und nun frei in der Rzeczpospolita sind“; c) „Anordnung städtischer Gerichte und Assessorien«; d) »Innere Anordnung von Städten“.

Zusammen mit dem oben genannten Gesetz vom 18. April 1791 über freie Städte bestätigte der Monarch von Rzeczpospolita den Städten alle ihre Privilegien und verpflichtete sich dazu, ihnen Bestätigungs- oder Renovationsvorrechte (diplomata renovationis) zu erteilen. In der Kanzlei des Großfürstentums Litauen wurde ein spezielles Buch für die Eintragung der Renovationsvorrechte angelegt. Derzeit befindet es sich unter der Nummer 556 im Bestand der Litauischen „Metrika“. Es enthält 74 Privilegien für Städte und Ortschaften des Großfürstentums Litauen von 1791 bis 1792, darunter für 18 Städte und Ortschaften, deren Verwaltungszentren auf dem Territorium des heutigen Belarus (Weißrussland) lagen.

Am 23. Juni 1792 erhielt die Ortschaft Radun’ ein Bestätigungsprivileg. Dessen Original ist in dem oben erwähnten Buch der Litauischen „Metrika“ in polnischer Sprache veröffentlicht. Eine der Voraussetzungen für die Erteilung dieses Privilegs war die Bereitstellung von Dokumenten, die den ursprünglichen städtischen Status der Siedlung bestätigten. In diesem Zusammenhang waren im Privileg gleich zwei frühere Privilegien erwähnt: das Privileg, das am 22. November 1744 vom polnischen König und Großfürsten von Litauen, August III. (reg. 1733/36–1763), an die Stadt verliehen wurde und in welchem „eindeutig“ über das Privileg des polnischen Königs und Großfürsten von Litauen Johann III. Sobieski aus dem Jahr 1679 gesagt wird, dass Radun’ bereits das Magdeburger Stadtrecht hatte. Ferner wurde im Privileg vom 23. Juni 1792 das Stadtwahrzeichen von Radun’ erwähnt, über das die Ortschaft „schon seit langer Zeit“ verfügte: das bereits erwähnte Wappen, ein roter Krebs auf silbernem Grund.

Auf Grundlage der verbliebenen Daten kann man den Vorgang des Erlangens eines Bestäti­gungsprivilegs der Ortschaft Radun’ im Jahr 1792 nachvollziehen. In diesem Zusammenhang ist das Dokument mit dem Titel „Die Kosten für die Erlangung des Privilegs von Radun’ 1792“, entdeckt von der litauischen Forscherin Ramunja Schmigelskite-Stukene, von großer Bedeutung. Nach der Verabschiedung des Gesetzes „Über freie Städte“ 1791 beschlossen die Bürger von Radun’, ihren Beauftragten nach Warschau/Warszawa zum König von Polen und Großfürsten von Litauen zu schicken. Am 2. Juni 1792 wurde bei einer Sitzung des Stadtrats von Radun’ beschlossen, mit der Erlangung des Privilegs eine ausgewählte Person, nämlich den Vogt der Ortschaft, zu beauftragen. Um das Privileg zu erhalten, war es notwendig, vor dem König von Polen und Großfürsten von Litauen Stanisław August Poniatowski in Warschau zu erscheinen. Mit dem Ziel, die notwendigen rechtlichen Doku­mente für die Durchführung der „Warschauer Geschäftsreise“ zu sammeln, erhielt man in der Stadt Lida/Lyda ein spezielles gestempeltes Papier für amtliche Dokumente, zudem wurde eine Vollmacht erstellt und unterzeichnet. Am 4. Juni 1792 übergaben die Ratsherren von Radun’ ihrem Vertreter, Vogt und Einwohner der Ortschaft Radun’, Frantischek Grinfeld, im Landgericht des Lidaer Kreises der Stadt Lida die Vollmacht. Frantischek Grinfeld erhielt von der Zivilkommission des Lidaer Kreises zusätzlich einen Sonderausweis für seine Reise nach Warschau. Kasimir Tychkewic, der Älteste von Radun’ und Schatzmeister (Podskarbij) des Großfürstentums Litauen, half Grinfeld dabei, das Privileg zu erhalten. Es dauerte fast drei Wochen, bis der Radun’er Beauftragte das Privileg bekam, das der König von Polen am 23. Juni 1792 unterzeichnete.

Im Laufe dieser drei Wochen wurde daran gearbeitet, die ehemaligen Privilegien von Radun’ in den Büchern der „Metrika“ des Großfürstentums Litauen zu finden, die damals in Warschau aufbewahrt wurden. Diese Arbeit kostete 216 Zloty. Für das Pergament wurden 20 Zloty, für das Schreiben des Privilegs 90 Zloty, für die Eintragung in die „Metrika“ des Großfürstentums 20 Zloty, für eine Seidenschnur und eine Metallschüssel mit Deckel zum Bedrucken 36 Zloty usw. bezahlt. Außerdem waren für die „Entlohnung“ der Beamten der Kanzlei hohe Ausgaben erforderlich: Der königliche Sekretär und Jägermeister des Lidaer Kreises, Vinzent Belopetrowic, erhielt 108 Zloty; der Unterkanzler des Großfürstentums Litauen für das Aufbringen des Kleinen Siegels des Großfürstentums Litauen auf das Privileg 270 Zloty. Insgesamt hat der bevollmächtigte Vertreter der Bürger von Radun’ 1 265 Zloty und 19 Griwny für den Erhalt des Privilegs bezahlt. Dabei entfielen 850 Zloty, über die Hälfte des Betrags, auf das tatsächliche Privileg und seine Beglaubigung.

Anscheinend wurde das ausgegebene Geld vom Magistrat der Ortschaft Radun’ an Frantischek Grinfeld übergeben, demgemäß war ein Bericht über den aufgewendeten Betrag notwendig. Diese Tatsache zeigt eine aktive Position der Bürger von Radun’ bei der Bestätigung und Sicherung ihrer Rechte, die ihre eigenen Mittel in die Erwerbung des Bestätigungsprivilegs investiert hatten. Andere weißrussische Städte des Großfürstentums Litauen und Königreichs Polen wiederum erhielten ähnliche Privilegien durch die Bemühungen ihrer Herren.

Das Bestätigungsprivileg von Radun’ vom 23. Juni 1792 ist somit ein bemerkenswertes Beispiel aus der Geschichte der Geschäftsabwicklung des Großfürstentums Litauen gegen Ende des 18. Jahrhunderts und eine wichtige schriftliche Quelle. Darüber hinaus hat dieses Dokument eine bedeutende Rolle in der Geschichte der Ortschaft gespielt, weil es den Status von Radun’ als Freie Stadt schriftlich fixiert hat. Zudem enthält es Informationen über das Magdeburger Recht und das alte Wahrzeichen der Stadt. Der Erhalt dieses Privilegs ist zweifellos eine Manifestation der aktiven sozialen Position der Bürger von Radun’ bei der Wahrung ihrer Freiheiten, Rechte und Privilegien.

Autorin: Olga Keller

 

Quellen:

Minsk, Nacyjanal’nyj histaryčny archiŭ Belarusi [Historisches Nationalarchiv der Republik Belarus in Minsk], Bestand 1767, Heft 1, Akte 298.

Weiterführende Literatur:

Aliaksandr Dounar: Renavazyjny pryvilej Raduni 1792 g. Zmest, koscht, snacenne [Das Konfirmationsprivilegium für Radun’ aus dem Jahr 1792. Inhalt, Wert und Bedeutung], in: Vestnik MGIRO. Naucnometodiceskij schurnal, Minsk 2016, S. 45–50.

Iwan Krenj: Pamjazj: Woranauski rajon, Gist.-dak. chroniki garadou i rajonau Belarusi [Gedächtnis. Der Bezirk Woranauski, Geschichtlich-dokumentarische Chroniken der Städte und Bezirke Weißrusslands], Minsk 2004.

Edmundas Rimša: Pieczęcie miast Wielkiego Księstwa Litewskiego [Die Städtesiegel des Großfürstentums Litauen], Warszawa 2007.

Sjargej Saneuski: Radun’ (XIII – XIX stst.), in: S gistoryi kraju i ljosaj ljudsej Woranauschyny: materujyly nawukowaj gistoryka-krajasnaucaj kanferenzyi, Radun’, 11 sneschnja 2004 [Aus der Geschichte des Landes und vom Schicksal der Menschen des Bezirkes Woranauschyna: Materialien der wissenschaftlichen geschichtlich-landeskundlichen Konferenz in Radun’ am 11. 12. 2004), hg. v. D. S. Aljaschkewic u. I. P. Krenj, Lida 2006.

Słownik Geograficzny Ziem polskich [Geografisches Wörterbuch der polnischen Länder], Bd. 9, Warszawa 1888.

2002 Sprawocnik. Radun’ski narodny gistoryka-krajasnaucy musej [Handbuch. Das Volks­museum von Radun’ für Geschichte und Landeskunde], Radun’ 2002.

Sjargej Strenkouski: Garadskoe samakirawanne na terytoryi Belarusi u kanzy XIV – XVIII st. [Die Stadtverwaltung auf dem Territorium Weißrusslands gegen Ende des XIV – XVIII Jh.], Bd. 1, Minsk 2013.

Zitation:

Olga Keller: Radun’. Verleihung des deutschen Stadtrechts an die Ortschaft, in: Das Magdeburger Recht. Baustein des modernen Europa, 16.06.2020, https://magdeburg-law.com/de/magdeburger-recht/historische-staedte/radun/

Der Beitrag ist bereits in ähnlicher Form erschienen in: Gabriele Köster und Christina Link (Hg.): Faszination Stadt. Die Urbanisierung Europas im Mittelalter und das Magdeburger Recht (Katalog zur gleichnamigen Sonderausstellung vom 1.September 2019 – 2.Februar 2020), Dresden 2019, S. 268–272.