Gründung und Untergang einer Lokationsstadt in der „Großen Wildnis“:
Beim Dorf Alt-Wartenburg/Barczewko unweit von Allenstein/Olsztyn (Woiwodschaft Ermland und Masuren, Nordostpolen) liegen am Ufer des Wadangsees die Wälle der ersten Stadt Wartenburg, die bei einer kriegerischen Zerstörung im Jahr 1354 unterging. Ein neuerlicher Aufbau, die heutige Stadt Wartenburg/Barczewo, erfolgte an anderer Stelle. Seitdem liegen die Überreste der Initialgründung unberührt in der Erde. Ein Projekt der Universitäten Danzig/Gdańsk und Greifswald, das maßgeblich durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, aber auch durch die Universität Danzig, die Gemeinde Barczewo und den Historischen Verein für Ermland gefördert wird, erforschte diesen Platz in den letzten Jahren.
Abb. 1: Heutige Ansicht des ehemaligen Stadtwalls von Alt Wartenburg (Foto Arkadiusz Koperkiewicz)
Im Vergleich mit anderen Städten Magdeburger Rechts wirkt das im ehemaligen Hochstift Ermland und in der alten preußischen Landschaft Galinden gelegene Alt-Wartenburg sehr bescheiden. Das ursprünglich von Graben und Wall umgebene, unregelmäßig-ovale Stadtterrain befand sich auf einem Geländesporn, der kaum mehr als zwei Hektar Fläche bot. Kurz vor oder um 1330 siedelte sich dort eine kleine Gruppe von Kolonisten wohl hauptsächlich aus Schlesien an, nachdem der ermländische Bischof Eberhard von Neiße (amt. 1300/01–1326) im Jahr 1325 in der Nähe eine Burg hatte errichten lassen. Darf man eine solche Siedlung schon zur Kategorie der Städte zählen? Das kann eindeutig bejaht werden, und zwar aufgrund rechtlicher, sozialer und städtebaulicher Betrachtungen.
Aus rechtlicher Sicht lässt sich der Status als Stadt in den zeitgenössischen Schriftquellen belegen. So wird der Ort erstmals 1337 in einer Urkunde als „Wartberg Ciuitate“ bezeichnet, wobei auch die beiden Schulzen (Vorsteher der Siedlergemeinschaft), die Brüder Johannes und Peter, namentlich genannt wurden. Als rechtliche Grundlage für den Stadtstatus dienten die Lokationsurkunden (sogenannte Handfesten), die im 14. Jahrhundert für fast alle ermländischen Städte überliefert sind. Die Alt-Wartenburger Handfeste ist allerdings nicht erhalten, da sie bei der Zerstörung 1354 verbrannt sein dürfte. Bekannt sind dagegen die Lokationsurkunden der benachbarten Städte, deren Gründung zeitlich nahe der von Alt-Wartenburg lag (Guttstadt/Dobre Miasto: Handfeste 1329; Rößel/Reszel: Handfeste 1337; Seeburg/Jeziorany: Handfeste 1338). Die dort vorhandenen, auf dem Kulmer Recht basierenden Bestimmungen unterscheiden sich nur in einigen Details. Daher liegt es nahe, dass die verlorene Handfeste von Alt-Wartenburg einen vergleichbaren Inhalt besessen hat. Der städtische Charakter dieser durchweg recht kleinen Siedlungen zeigt sich deutlich anhand bestimmter Merkmale – etwa dem Recht, Markt zu halten und den Ort zu befestigen, oder an der Art der erwähnten öffentlichen Einrichtungen, insbesondere dem Kaufhaus (Mercatorium) und der Badestube. In den zeitgleichen Handfesten von Dörfern kommen derartige Bestimmungen nicht vor.
Die in den Urkunden genannten städtischen Einrichtungen fanden in der urbanistischen Struktur der ermländischen Kleinstädte ihren Niederschlag. Das zeigt sich auch in Alt-Wartenburg. Die bis zum Zeitpunkt der Zerstörung 1354 errichteten etwa zwei Dutzend unterkellerten Fachwerkhäuser wurden entlang zweier parallel verlaufender Straßen sowie um einen rechteckigen Marktplatz (etwa 40 × 60 Meter Seitenlänge) herum angelegt. An der Südseite des Marktes befand sich das „Kaufhaus“, das besagte Mercatorium, als größtes Gebäude der Stadt. Es bestand aus drei Flügeln um einen Innenhof, in dem sich unter anderem Öfen für handwerkliche Zwecke befanden. In den Kaufhausflügeln wurden in der Stadt hergestellte oder durch Handel erworbene Waren gelagert und verkauft. Am östlichen Stadtrand konnte das Badehaus lokalisiert werden, das sich von den übrigen Häusern durch das Vorhandensein eines großen Ofens, aber auch zahlreicher Funde tönernen Trink- und Schenkgeschirrs unterschied. Die vom Markt und den dortigen Häuserzeilen etwas abgerückte Lage erklärt sich aus der Feuergefahr, die durch den regelmäßigen Heizbetrieb entstand.
Zur Stadt gehörte ebenfalls eine Pfarrkirche, die sich in Alt-Wartenburg nebst Friedhof nordöstlich des Markts befand. Der Ort besaß mithin alle Elemente, die zu einer urbanen Ansiedlung gehörten: einen Marktplatz mit prominent platziertem, administrativen und ökonomischen Zwecken dienendem Kaufhaus, ein regelmäßiges Straßennetz, eine Befestigung, Kirche und Friedhof, ein Badehaus und zahlreiche Bürgerhäuser; auch wenn diese – wie ganz Alt-Wartenburg – im Wesentlichen aus Holz und Lehm bzw. Fachwerk bestanden, bestätigen die rechteckigen, über Treppen und Rampen zugänglichen Keller doch einen urbanen Bautyp, der viele Vergleiche in den mittelalterlichen Städten des östlichen Mitteleuropas findet. Die Stadt entstand ohne Vorgänger, und ihr Grundriss wurde gleich anfangs durch Vermessung festgelegt – eine Planstadt „aus wilder Wurzel“.
Abb. 2: Rekonstruktion der Gründungsphase der Stadt Alt Wartenburg um 1330, es wird gerodet und befestigt, erste Häuser entstehen (Leif Plith Lauritsen)
Ein relevanter Unterschied zwischen Stadt und Dorf bestand auch in der Sozialstruktur der Bevölkerung. Nach Ausweis der Funde (Pflüge, Hacken, Beile, Sensen und andere agrarische Geräte) gingen viele Bewohner zumindest teilweise auch der Landwirtschaft nach und können somit als „Ackerbürger“ bezeichnet werden. Diese Tätigkeit diente jedoch nur der Selbstversorgung in einer Zeit, als es in der Umgebung noch keine Dörfer gab, deren Bauern durch Getreideanbau und Viehzucht die Belieferung der Stadt mit Lebensmitteln sicherstellen konnten. Daneben waren in Alt-Wartenburg alle wesentlichen Handwerksberufe vertreten: Fischer, Metzger, Müller, Schmied, Bader, Töpfer, Zimmerer usw. Der Lokator musste offenbar bei der Auswahl der Siedler für die Stadtgründung genau darauf achten, dass jedes grundlegende Handwerk vertreten war, damit der neu angelegte Ort funktionieren konnte. Alt-Wartenburg befand sich während der ersten beiden Dekaden seiner Existenz noch in den zeitgenössisch als „Große Wildnis“ bezeichneten, nur dünn besiedelten Waldgebieten im Südosten des Preußenlandes. Zwar wurde die Stadt am Wadangsee bald in das Kommunikations- und Handelsnetzwerk des Preußenlandes einbezogen, wie Importwaren und Produkte gehobenen städtischen Handwerks belegen. Die schon bestehenden Städte, aus denen man Handelswaren beziehen konnte, waren aber weit entfernt und damals nur durch schlechte Wege erreichbar (Osterode/Ostróda 53 Kilometer westlich, Heilsberg/Lidzbark Warmiński 35 Kilometer nördlich). So musste die große Masse des alltäglichen Bedarfs an Handwerksware vor Ort hergestellt werden, wozu eine gut organisierte Arbeitsteilung notwendig war.
Abb. 3: Archäologische Funde aus den Kellern der wüsten Stadt Alt Wartenburg, Utensielen aus dem Alltag (Archäologisches und Ethnologisches Institut der Universität Danzig)
Auch in anderen Gegenden Ermlands und des Ordenslandes lässt sich nachweisen, dass bei der Aufsiedlung einer Teilregion zuerst eine Burg zur Terrainsicherung angelegt wurde (im hier betrachteten Fall die Burg Wartenberg im Jahr 1325), bald darauf eine Stadt als zukünftiges wirtschaftliches Zentrum und erst danach Bauerndörfer und Einzelhöfe. So ist in der Umgebung von Alt-Wartenburg 1346 die früheste Dorfgründung nachweisbar, mehr als 15 Jahre nach Anlage der Stadt. Diese Vorgehensweise machte es erforderlich, dass in der frühen Siedlungsphase die erste Generation der Bürger einer neu gegründeten Stadt die Tätigkeiten von Handwerkern und Bauern gleichzeitig ausüben musste. Dies erforderte ungeheure Anstrengungen, Geschick und eine große Risikobereitschaft, die – wie das Schicksal Alt-Wartenburgs zeigt – das Risiko totalen Misslingens und Lebensgefahr einschloss.
Wie kann man erklären, dass sich trotz dieser Gefährdungen und Mühen immer wieder genügend Menschen fanden, die das Wagnis der Beteiligung an einer Stadtgründung unter solchen Bedingungen eingingen, zudem in einer so entlegenen Region? Ein wesentlicher Grund lag in dem hohen Maß an persönlicher und wirtschaftlicher Freiheit, die den Neusiedlern durch die ihnen mit der Stadtgründung verliehenen Rechte garantiert wurden. Wer die Mühen und Gefahren der Aufbauphase auf sich nahm, hatte die Aussicht darauf, später ein Leben in relativ großer Freiheit und Wohlstand führen zu können. Diese Perspektive überwog im Verbund mit dem zeitlosen Reiz des Neuanfangs das Risiko ökonomischen Scheiterns, von Hunger und Gewalt. Die in vielen Variationen bekannte Volksweisheit „Den ersten der Tod, den zweiten die Not, den dritten das Brot“ sollte sich für die Bewohner der Stadt am Wadangsee jedoch in ihrer schlimmsten Form bestätigen.
Alt-Wartenburg ging noch zu Lebzeiten der ersten Siedlergeneration unter. Die Kolonisten fielen den schweren Auseinandersetzungen zwischen dem Deutschen Orden und dem Großfürstentum Litauen zum Opfer, die das 14. Jahrhundert prägten. Im Winter 1354 überfiel ein litauisches Heer unter Führung der beiden Großfürsten Kynstut (Kęstutis; reg. 1347–1382) und Olgerdt (Algirdas; reg. 1345–1377) die junge Stadt, brannte sie vollständig nieder und tötete alle Bewohner. Dieses Ereignis ist chronikalisch durch den Ordensherold Wigand von Marburg überliefert und lässt sich anhand der aktuellen archäologischen Forschungen eindrucksvoll bestätigen. Der Ort fand in einer Brandkatastrophe sein Ende, die durch die Münzfunde sowie die sämtlich vor dem Zerstörungsjahr liegenden dendrochronologischen Daten der Bauhölzer auch zeitlich bestätigt wird.
Abb. 4: Rekonstruktion des Zustands am Tag der Zerstörung von Alt Wartenburg 1354 (Leif Plith Lauritsen)
Die Neugründung Wartenburgs/Barczewo erfolgte einige Jahre später etwa sechs Kilometer entfernt. Dank dieses Umstands bewahrte der zerstörte Ort die unter der Erde verborgenen Relikte einer Lokationsstadt im frühesten, sozusagen embryonalen Entwicklungsstadium. Ohne die Katastrophe von 1354 befände sich auf der einsamen Anhöhe am Wadangsee heute ein Provinzstädtchen, dessen Geschichte nur die Lokalhistoriker interessieren würde. Infolge der damaligen unglücklichen Ereignisse bilden die in einer Art „Pompeji-Effekt“ schlagartig aus dem Alltagsgebrauch gerissenen und dann über 660 Jahre unberührten Bauten und Sachgüter des untergegangenen Ortes heute ein überregional bedeutendes Objekt der archäologisch-historischen Stadtforschung. In den Kellern der damals verbrannten Häuser finden sich Tongefäße, Werkzeuge aller Art, Silbermünzen und Dinge des Alltags, oft noch in der Art, wie sie sich am Tag der Zerstörung im Jahr 1354 dort befunden haben. Von dem Gewaltereignis zeugen die überall verteilten Armbrustbolzen und Pfeilspitzen, insbesondere aber auch die Skelette von Stadtbewohnern, die damals erschlagen und von den herabfallenden Balken ihrer Häuser begraben worden waren. Mit jedem neu untersuchten Haus erweitert sich unser Wissen über die soziale und wirtschaftliche Struktur der Kleinstadt. Die auf dem Friedhof freigelegten Gräber aus den beiden ersten Jahrzehnten ihrer Existenz sind ein unschätzbarer genetischer Informationsspeicher für die Bevölkerungsgeschichte des zweiten Viertels des 14. Jahrhunderts im Ermland.
Alt-Wartenburg steht stellvertretend für die Vielzahl der Kleinstädte der Ostsiedlungszeit, die zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert auf Grundlage des Magdeburger Rechts oder verwandter Rechte gegründet worden sind. Der Stadtcharakter ergab sich dabei nicht zwingend aus einer großen Bevölkerungszahl, sondern vor allem aus den oben genannten rechtlichen, sozialen, wirtschaftlichen und urbanistischen Merkmalen.
Autoren: Felix Biermann, Christofer Herrmann u. Arkadiusz Koperkiewicz
Weiterführende Literatur:
Felix Biermann, Christofer Herrmann u. Arkadiusz Koperkiewicz: Alt-Wartenburg/Barczewko. Interdisziplinäre Erforschung einer spätmittelalterlichen Stadtwüstung im Ermland (Nordostpolen), in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 44 (2016), S. 115–148.
Felix Biermann, Christofer Herrmann u. Arkadiusz Koperkiewicz: Alt Wartenburg/Barczewko na Warmii. Początki miasta średniowiecznego i jego fortyfikacje [Alt-Wartenburg/Barczewko im Ermland. Anfänge der mittelalterlichen Stadt und ihre Befestigungsanlagen], in: Archaeologica Hereditas 7 (2016), S. 49–70.
Ulrich Fox: Kirchspiel Alt-Wartenburg im Ermland, Paderborn 1989.
Victor Röhrich: Die Kolonisation des Ermlands, in: Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde des Ermlands 14 (1903), S. 683–708.
Zitation:
Felix Biermann, Christofer Herrmann u. Arkadiusz Koperkiewicz: Barczewko / Alt Wartenburg. Gründung und Untergang einer Lokationsstadt in der „Großen Wildnis“, in: Das Magdeburger Recht. Baustein des modernen Europa, 15.06.2020, https://magdeburg-law.com/de/magdeburger-recht/historische-staedte/barczewko-alt-wartenburg/
Der Beitrag ist bereits in ähnlicher Form erschienen in: Gabriele Köster und Christina Link (Hg.): Faszination Stadt. Die Urbanisierung Europas im Mittelalter und das Magdeburger Recht (Katalog zur gleichnamigen Sonderausstellung vom 1.September 2019 – 2.Februar 2020), Dresden 2019, S. 274–277.